Das Leben mit ADHS
- reina's Blog

- 31. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Ein Blick in meinen Kopf – Leben mit ADHS. Ein Einblick in meine Gefühle und Gedankenwelt. Sich selbst zu reflektieren, ist alles andere als einfach aber in diesem Blog versuche ich genau das.
In meinem Kopf ist nie Ruhe. Es ist, als würde dort ein endloser Strom von Gedanken, Ideen und Emotionen kreisen, ohne Pause, ohne Stille. Ich habe ständig neue Einfälle, bin reizoffen, impulsiv, emotional. Konzentrieren? Kaum möglich. Zur Ruhe kommen? Nur selten. Diese Eigenschaften begleiten mich, seit ich denken kann, seit meiner Kindheit.
Kindheit im Dauerlauf
Schon als Kind war ich „anders“. Ich konnte nie ruhig sitzen, war immer in Bewegung, körperlich wie gedanklich. Ich begann Aufgaben, aber brachte sie selten zu Ende. Meine Aufmerksamkeit sprang von einem Gedanken zum nächsten. Geduld? Ein Fremdwort. Meine Eltern hatten es nicht leicht mit mir. Vor allem meine Mutter hat sich unglaublich viel Zeit genommen, um mich zu begleiten und zu verstehen. Bis heute erzählt sie mit einem liebevollen Lächeln, wie ich nach Hause kam und voller Begeisterung sagte:„Mami, ich habe wieder eine Idee!“ Damals war das für sie anstrengend, heute kann sie darüber lachen. „Ja, mach ich gleich.“ Sie gab mir eine einfache Aufgabe. Nichts Kompliziertes, so etwas wie: „Bitte räum deine Sachen weg, wenn du sie benutzt hast.“ Meine Antwort kam prompt und routiniert: „Ja, mach ich gleich.“ Doch das „gleich“ kam selten. Ein paar Minuten später stand sie genervt in der Tür:„Du hast doch gesagt, du machst das gleich.“ Und meine Standardantwort?„Ups, hab ich vergessen.“ Was nach Bequemlichkeit oder Trotz klingt, war in Wahrheit etwas anderes: Mein Kopf war längst woanders. Gedanken, Ideen, Impulse, alles gleichzeitig. Für mich war die Aufgabe nicht unwichtig, sie war einfach… aus dem Fokus gerutscht. Wenn eine Aufgabe schwierig wurde, liess ich sie einfach liegen und widmete mich der nächsten Idee. Ich wählte immer den Weg des geringsten Widerstands, nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil mein Kopf so funktionierte.
Nach meiner Diagnose, dass ich ADHS habe, hatte ich regelmässige Termine bei einer Therapeutin. Ich bekam Ritalin, es half mir, meine Gedanken zu sortieren, mich besser zu fokussieren. Schon in meiner Kindheit hatte ich das Gefühl, dass ich alles alleine kann. Ich brauchte keine Unterstützung und ich hatte meinen eigenen Willen und habe ihn durchgesetzt. Deshalb entschied ich irgendwann: Ich brauche das nicht mehr. Damals sagte man oft, ADHS „verwächst sich“. Heute weiss ich: Bei mir war das nicht so. Ich meisterte mein Leben lange ohne Medikamente, irgendwie.
Jugend & Beziehungen – mein ständiger innerer Sprint
Ich schloss die Schule ab und schnupperte in genau zwei Berufe hinein: Malerin und Schriftenmalerin. Eigentlich wollte ich den Beruf meiner Mutter erlernen, Coiffeuse. Doch sie war dagegen. Nicht aus Ablehnung, sondern aus Fürsorge. Am Ende entschied ich mich für das, was am einfachsten erschien, eine Lehre als Malerin. Ich arbeitete in einem von Männern dominierten Umfeld. Die Zeit war oft hart. Sprüche wie: „Frauen kann man auf dem Bau nicht gebrauchen“ gehörten zum Alltag. Nachpfeifen, Anmachen, Abwertung, all das musste ich ertragen. Ich lernte früh, mich zu behaupten. Vielleicht war es genau diese Zeit, die mich geprägt hat. Meine Jugend war geprägt von Sprunghaftigkeit. Jede Beziehung, mit einer Ausnahme, hielt kaum länger als drei Jahre. Ich bin stur, willensstark, impulsiv, keine leichte Mischung für Partnerschaften oder Freundschaften. Auch Beziehungen zu Freunden waren oft schwierig. Ich weiss, dass ich herausfordernd sein kann. Ich bin sehr klar in meiner Meinung und wenn mir etwas keinen Sinn ergibt, ist es für mich nicht diskussionswürdig. Ich neige zum Schwarz-Weiss-Denken, falle selten in Grauzonen. Ich wirke oft kühl, vielleicht sogar gefühllos. Und ich habe wenig Geduld mit den Problemen anderer, vor allem, wenn ich sie nicht nachvollziehen kann. Wenn etwas Unvorhergesehenes passiert, löst das in mir oft ein komplettes Gefühlschaos aus. Ich reagiere dann heftig, eskaliere manchmal. Statt einfach kurz durchzuatmen, fahre ich hoch. Ruhige Gespräche? Nicht in diesem Moment. Meine Impulse übernehmen die Kontrolle, noch bevor mein Verstand reagieren kann. Eine Idee jagt der nächsten in meinem Kopf. Deshalb vergesse ich manchmal auch Dinge, die mir meine Freunde bereits erzählt haben, ich höre zwar zu, aber in meinem Kopf bin ich gedanklich schon wieder einen Schritt weiter.
Wie ich angekommen bin, beruflich, emotional und ganz bei mir
Heute arbeite ich als Assistentin der Geschäftsführung und ich liebe, was ich tue. Doch der Weg hierher war alles andere als gradlinig. Nach meiner Malerlehre wurde mir schnell klar: Das ist nicht mein Weg. Ich wollte etwas anderes. Und wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, freiwillig, aus mir selbst heraus, dann ziehe ich es durch. Punkt. Ich habe vieles ausprobiert, mich nie ganz wohlgefühlt. Besonders beruflich war ich oft sprunghaft, rastlos. Immer auf der Suche nach mehr, nach dem Richtigen. Heute weiss ich: Diese Unruhe war nicht einfach Unentschlossenheit, sie war ein Teil meiner Persönlichkeit, meiner Geschichte. Nun habe ich meine Stelle gefunden. Und das erste Mal fühle ich mich angekommen, erfüllt, gefordert, aber gleichzeitig ruhig und sicher. Auch in der Liebe war ich lange Zeit sprunghaft. Meine längste Beziehung dauerte etwas über fünf Jahre, dann beendete ich sie. Nicht, weil er nicht gut zu mir war. Im Gegenteil: Er war fürsorglich, unterstützend, verlässlich. Ein guter Mensch. Und trotzdem: Ich war unzufrieden. Wieder. Diese permanente innere Leere war anstrengend, für mich und für andere. Ich dachte lange, dass ich gar nicht in der Lage bin, echte Liebe zu empfinden. Bis ich meinen jetzigen Partner traf. Er ist mein Gegenpol, ruhig, besonnen, geduldig. Und zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich: Das ist sie. Meine Liebe des Lebens. Unsere Geschichte ist kompliziert, ausführlich erzähle ich sie in einem anderen Blogpost. Aber hier und heute kann ich sagen: Ich bin angekommen. Den nächsten Schritt bin ich für unsere Beziehung gegangen: Ich begann Ritalin zu nehmen. Nicht, um mich zu verändern, sondern um mit meinen starken Impulsen besser umzugehen. Ich war oft laut, schnell aufbrausend, wenig offen für andere Meinungen. Diskussionen konnte ich immer wieder neu beginnen, auch wenn sie längst vorbei waren. Ritalin hat mich nicht zu einem anderen Menschen gemacht. Aber es hilft mir, innezuhalten. Eine Diskussion auch mal sein zu lassen. Eine andere Sichtweise zuzulassen. Und mich in die Welt meines Partners hineinzudenken, so wie er sich immer wieder in meine hineindenkt. Es klappt nicht immer. Es ist und bleibt ein Prozess. Aber ich bin dankbar, für seine Geduld, seine Liebe, und dass er mich sieht, wie ich bin.
ADHS – bei jedem anders
Es gibt verschiedene Typen von ADHS, ich selbst zähle eher zum impulsiven Typ. Ich treffe Entscheidungen schnell, manchmal zu schnell, und setze Ideen meist sofort in die Tat um, ohne langes Zögern und oft, ohne die Konsequenzen wirklich abzuwägen. Impulsivität prägt mein Denken und Handeln. Und trotzdem bin ich ein organisierter Mensch: strukturiert, verlässlich und mit einem klaren Überblick über meine Termine, alle fein säuberlich notiert. Mein innerer Antrieb gönnt sich selten eine Pause. Ich bin ständig in Bewegung, innerlich wie äusserlich. Mein Leben fühlt sich für mich selbst oft an wie ein Dauerlauf, getrieben von einem inneren Druck, immer funktionieren zu müssen. Ein ständiger Balanceakt zwischen Impuls und Struktur. Und zwischen Kraft und Erschöpfung.
Durch die Einnahme von Ritalin ist etwas Entscheidendes passiert: In meinem Kopf wurde es leiser. Ich kann besser filtern. Ich kann Diskussionen irgendwann beenden, ohne sie immer wieder neu aufzurollen. Ich erledige Dinge öfters nacheinander, nicht alle gleichzeitig. Ich funktioniere nicht perfekt, aber ich funktioniere mit mehr Klarheit und weniger Chaos.
Fazit
Dieser Blog ist kein Ratgeber. Kein Rezept. Kein „So geht’s richtig“. Er ist ein Einblick in mein Leben, in ein Leben mit ADHS, das oft laut, schnell und widersprüchlich ist. Aber es ist mein Leben. Und es ist keine Entschuldigung für mein Verhalten, aber es ist eine Erklärung. Ich verstehe heute besser, warum ich oft so bin, wie ich bin und genau darum möchte ich auch, dass andere es verstehen können.